Sonntag 13 Oktober 2024

NUMMER 2/2020 +++SONDERAUSGABE+++

HARTE ZAHLEN

Liebe Mitglieder,

bislang fehlten uns die
Zahlen, um etwas illustrieren
zu können, was schon lange
virulent erscheint: Gewalt
gegen Beschäftigte im
Öffentlichen Dienst. Längst
sind es nicht mehr nur
Polizisten, Gerichtsvollzieher
oder Rettungskräfte, die sich
bei der Arbeit in Gefahr
begeben, bepöbeln und
anspucken lassen müssen.
Auch vermeintlich sicherer
Bürojobs sind inzwischen
nicht mehr sicher. Für die
Politik wird‘s Zeit zu handeln.

Große Studie des dbb Hessen

 

Gewalt im Öffentlichen Dienst

Bei dieser Studie handelt es sich um die Ergebnisse einer Online-
Befragung der bei den dbb-Hessen-Gewerkschaften organisierten
Beschäftigten im Öffentlichen Dienst in Hessen im Auftrag des dbb
beamtenbund und tarifunion Landesbund Hessen (DBB Hessen), die
von der Professur für Kriminologie im Zeitraum vom 24. September 2019 bis zum 30. November 2019
durchgeführt wurde.
 
Die Zielsetzung der Befragung lag darin, das Ausmaß und die Häufigkeit der Betroffenheit von Gewalt und
Aggressionen im dienstlichen Kontext zu erfahren. Die Studie sollte in einem relativ überschaubaren Zeitraum
einen ersten Eindruck von der Gewaltbetroffenheit im dienstlichen Zusammenhang erbringen und soll nach einer
Analyse der Ergebnisse mit vertiefenden Befragungen einzelner Berufsgruppen fortgesetzt werden. Standen bei
bisherigen Studien besonders exponierte Berufsgruppen wie Polizei, Einsatzkräfte (Feuerwehr und
Rettungskräfte) sowie grundsätzlich Vollstreckungsbeamte im Vordergrund, bestand die Annahme, dass über
die genannten Berufsgruppen hinaus deutlich mehr Beschäftigte im Öffentlichen Dienst im Rahmen ihrer
beruflichen Tätigkeit Aggressionen und Gewalthandlungen ausgesetzt sind. Auf die Einschränkungen der
Aussagekraft ist deutlich hinzuweisen:
 

Höchst relevant ist die Einschränkung der Aussagekraft der Studie im Hinblick auf jede Art der
Hochrechnung und der anteilmäßigen Betroffenheit bestimmter Berufsgruppen von Gewalt. Eine
quantitative Aussage zur Gewaltbetroffenheit kann aufgrund der Methodik nicht getroffen werden. Die
Studie hatte weder den Anspruch, repräsentativ zu sein noch war kontrollierbar, wer tatsächlich
geantwortet hat. Aufgrund der Eigenangaben der Befragten ist lediglich der vorsichtige Schluss auf eine
Gewaltbetroffenheit bestimmter Berufsgruppen möglich, die sich auch konkretisieren lässt. Wie häufig
jedoch derartige Vorfälle in der Berufsgruppe im Land Hessen sind, kann nicht bestimmt werden.
In dieser rein deskriptiven Auswertung wurde aufgrund der Methodik darauf verzichtet, eine Diskussion im
Vergleich zum Forschungsstand durchzuführen (dies bleibt Folgestudien zu diesem Bericht vorbehalten).
Die Ergebnisse dieser Online-Befragung sind jedoch im Hinblick auf die Zielsetzung weiterführend. Auch wenn
nicht davon ausgegangen werden kann, dass Berufsgruppen, die sich an dieser Befragung nur in sehr geringer
Zahl beteiligt haben, nicht gewaltbelastet sind, so stellt sich für die Angehörigen jener Berufsgruppen, die sich
mit relevanten Zahlenangaben an der Befragung beteiligt haben, eine besondere Gewaltbetroffenheit mit
spezifischen Besonderheiten in folgenden Berufsfeldern dar:

  • - Polizei
    - Schule
    - Agentur für Arbeit
    - Jobcenter
    - Justizvollzug
    - Gerichtsvollzieher

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Berufsgruppen sind in besonderem Maße Aggression und
Gewaltakten durch Bürger bzw. Kunden oder Gefangenen ausgesetzt. Gravierendsten Gewalterfahrungen mit
den meisten Tötungsversuchen sind dabei Polizeibeamte, aber auch Justizvollzugsbedienstete,
Gerichtsvollzieher und weniger, aber doch deutlich Beschäftigte der Jobcenter bzw. der Agentur für Arbeit
ausgesetzt, wenn man die Betroffenheit im gesamten Berufsleben betrachtet. Das Ausmaß von Beleidigungen
und wiederholten aggressiven Ansprachen, verbalen und körperlichen Bedrohungen in den aufgeführten
Berufsfeldern ist enorm und gehört für viele Betroffene nicht selten zum Alltag. Die meisten Vorfälle bleiben im
Dunkelfeld, weil keine Strafanzeige erstattet wird. Jedenfalls ist auch die emotionale Belastung mit zahlreichen
negativen Begleiterscheinungen bei der Ausübung der beruflichen Tätigkeit präsent und lässt einige
Gewaltbetroffene (zumindest gelegentlich) über einen Arbeitsplatzwechsel nachdenken.

Bei den Vorschlägen zur Prävention und Verbesserung der Situation ist positiv hervorzuheben, dass eine
Vielzahl konstruktiver Überlegungen in die Diskussion eingebracht wird. Dies sollten die Ministerien,
Vorgesetzten und Führungsebenen schon jetzt zur Kenntnis nehmen und die bisherige Alltagspraxis auf den
Prüfstand stellen. Wir empfehlen, in den genannten Berufsfeldern vertiefende Studien zur Prävalenz und vor
allem zu den Bedingungen, unter denen es zu Eskalationen und gefährlichen Situationen kommt, vorzunehmen.
Schon dieser deskriptive Überblick gibt Hinweise auf spezifische gefahrenträchtige Situationen.

Kurz soll noch zusammenfassend auf einige Besonderheiten der jeweiligen Berufsgruppe hingewiesen werden:

Polizei

Die Polizeibeamtinnen und -beamten erleben in Einzelfällen und in der Summe gravierendste Gewalt und sind in
der Häufigkeit der Vorkommnisse am höchsten belastet. Im Vergleich zu allen anderen belasteten
Berufsgruppen fühlen sich Polizeibeamtinnen und -beamte im beruflichen Alltag relativ sicher (9 % aber auch
nicht). Etwa 40 % der Teilnehmer fühlen sich vom Dienstherrn nicht ausreichend geschützt. Straftaten werden in
etwa der Hälfte der Fälle angezeigt, man hat aber keine guten Erfahrungen mit der Justiz gemacht, da diese die
Verfahren überwiegend einstelle. Die Täter sind in etwa ¾ der Fälle Einzeltäter, männlich, zwischen 21 und 30
Jahren alt und häufig mit Migrationshintergrund. In etwa 16 % der Fälle sehen sich die Beamtinnen und
Beamten aber auch ganzen Tätergruppen gegenüber. Relevant ist auch der Anteil alkoholisierter bzw.
drogenbeeinflusster oder psychisch beeinträchtigter Täter. Die Verbesserungsvorschläge sind heterogen und
zahlreich: Polizeibeamtinnen und -beamte fordern eine härtere bzw. konsequente Sanktionierung durch die
Justiz, gesellschaftliche Wertschätzung und Anerkennung der Berufsgruppe Polizei, eine Verbesserung des
gesellschaftlichen Zusammenlebens, mehr Personal, eine bessere und modernere Ausstattung, mehr
Unterstützung durch Vorgesetzte, Politik und Medien sowie mehr Aus- und Fortbildung und Training.

Justizvollzug und Gerichtsvollzieher

Mit einigem Abstand im Hinblick auf körperliche Angriffe, aber mit einer ebenso hohen, fast alltäglichen Gefahr
von Bedrohungen aller Art und Beleidigungen haben Justizvollzugsbeamte und Gerichtsvollzieher zu tun (bei
Betrachtung der Lebenszeitprävalenz). Justizvollzugsbeamte sind in erheblichem Maße diversen
Gewalterfahrungen ausgesetzt. Kaum einer wurde noch nicht beleidigt (70 % allein im letzten Jahr), erhebliche
90 % wurden im Lauf des Berufslebens schon bedroht (53 % im letzten Jahr), das Anspucken ist häufig und
körperliche Angriffe – bis hin zu Tötungsversuchen – stellen mit 57 % im gesamten Berufsleben sowie 33 % im
letzten Jahr eine hohe Gewaltbelastung dar. Die Vorfälle werden in fast der Hälfte der Fälle beim Vorgesetzten
angezeigt, was im Vergleich zu anderen belasteten Berufsgruppen zwar relativ viel ist, andererseits in einer
Institution wie dem Justizvollzug wiederum überrascht. Gründe für die niedrige Anzeigequote in der eigenen
Behörde könnten darin liegen, dass der Vorfall als Bagatelle eingestuft wurde, denkbar sind aber auch andere
aufgeführte Gründe wie Angst vor negativen Konsequenzen und Furcht vor Kritik durch Vorgesetzte bis hin zur
Rache des Täters. Bei der Verbesserung der Situation wird an erster Stelle mehr Personal und mehr Sicherheit
gefordert (durch verbesserte Ausrüstung ebenso wie durch bessere Schulung und Vorbereitung auf
Einsatzsituationen).

Die Gerichtsvollzieher sind in ganz erheblichem Maße Beleidigungen und Bedrohungen vielfältiger Art
ausgesetzt. Beleidigungen erfährt im Laufe des Berufslebens fast jeder, im letzten Jahr fast 78 %. Die Anzahl
der Bedrohungen im gesamten Berufsleben ist mit 86 % immens, im Laufe des letzten Jahres war fast die Hälfte
verbalen und körperlichen Bedrohungen ausgesetzt. Die Gruppe der Gerichtsvollzieher ist in besonderem Maße
mit Aggressionen und Gewalt konfrontiert. Körperliche Angriffe (60 % in der gesamten Berufszeit, 10 % im
letzten Jahr) sind nicht selten (und wie vor allem die offenen Angaben zu Erfahrungen im gesamten Berufsleben
zeigen, teilweise drastisch). Hinzu kommt, dass Gerichtsvollzieher sich allein in die räumliche Sphäre der
Angreifer begeben und auf Unterstützung durch Kollegen nicht zählen können. Bei dieser Berufsgruppe besteht
dringender Handlungsbedarf. Die meisten Gerichtsvollzieher (72 %) fühlen sich von Ihrer Behörde nicht
ausreichend geschützt und nahezu die Hälfte fühlt sich bei der Ausübung der beruflichen Tätigkeit unsicher. Bei
dem Wunsch nach Verbesserung stehen Sicherheit und eine bessere Ausrüstung an erster Stelle.

Schule

Lehrerinnen und Lehrer werden in erheblichem Maße (mehrfach) bedroht, beleidigt und respektlos behandelt
und beschimpft. Bezogen auf die Lebenszeit werden über 80 % beleidigt, 58 % bedroht, 13 % angespuckt und
auch nicht selten körperlich angegriffen (28 %). Die Täter sind überwiegend Schülerinnen und Schüler aller
Altersstufen, wobei der Schwerpunkt auf männlichen (81 %) Einzeltätern (60 %) unter 20 Jahren (75 %) liegt.
Andererseits sind auch Gewalterfahrungen mit drei oder mehr Tätern (26 %) häufig und unter den Tätern sind
auch Eltern der Schüler oder Fremde. Der Migrationsanteil spielt eine relativ geringe Rolle, in den offenen
Nennungen werden aber spezifische kulturelle Konflikte und Respektlosigkeiten benannt. Weniger relevant ist
Alkohol- oder Drogeneinfluss, was für situationsbedingte Konflikte im schulischen Kontext spricht. Die
emotionalen Folgen sind umfassend und vielfältig. Obwohl knapp die Hälfte der Betroffenen die Schulleitung
informiert, erfolgt eine Strafanzeige fast NIE (unter 1 %!).

Agentur für Arbeit und Jobcenter

Die Gruppe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Agentur für Arbeit sind in ganz erheblichem Maße
Beleidigungen und Beschimpfungen sowie Bedrohungen ausgesetzt. Körperliche Angriffe kommen ebenfalls vor
(3 % im letzten Jahr, 15 % im gesamten Berufsleben). Obwohl die Behördenleitung in fast 60 % der Fälle
informiert wurde, erfolgte eine Strafanzeige extrem selten (3 %). Fast die Hälfte der Beschäftigten fühlt sich von
den Vorgesetzten nicht ausreichend geschützt. Auch das Unsicherheitsgefühl ist mit 18 % hoch.

Verbesserungen wünschen sich Arbeitsagentur-Beschäftigte in vielfältiger Weise (verbesserte Sicherheits- und
Schutzmaßnahmen durch äußere Kräfte, aber auch durch Kolleginnen und Kollegen, bauliche Maßnahmen,
Unterstützung durch Vorgesetzte, Schulungen und Sicherheitstraining für das Personal bis hin zur „Übung des
Impressum

V.i.S.d.P.:

dbb Hessen

Pressesprecher
Andreas Nöthen

Europa-Allee 103 (Praedium)
60486 Frankfurt
Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Telefon: 069/281 780

Ernstfalls“, aber auch mehr Kollegialität - Verringerung der Arbeitsbelastung, gegenseitige Unterstützung, Konfliktlösungen im Kollegenkreis, besseren Umgang mit den Kunden, konfliktfreien Umgang mit Kunden - sowie konsequentes Einschreiten bei Gewalt und Aggressionen.
Noch etwas häufiger als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Agentur für Arbeit sind Beschäftigte im Jobcenter von Aggressionen und Gewalt betroffen. Die Anteile der Beleidigungen und Bedrohungensind sowohl im gesamten Berufsleben wie auch im letzten Jahr hoch.Auch kommt es zu körperlichen Angriffen (16 % im gesamtenBerufsleben, 0,7 % im letzten Jahr). Der Umgang mit einer schwierigen und nicht selten aggressiven Klientel fordert hier in besonderem Maße Schutz und Fürsorge durch die Vorgesetzten. Entsprechend denkt über die Hälfte (!) der Beschäftigten über einenArbeitsplatzwechsel nach. Dabei stehen Forderungen nach mehr Sicherheit im Vordergrund. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenter wünschen sich mehr Unterstützung durch die Vorgesetzten, mehr Konsequenzen bei Aggressionenund Gewalt, psychologische Nachsorge und konsequente Strafverfolgung. Auch wenn in gewissen GrenzenVerständnis für die Lage der Kunden besteht, fordern die Beschäftigten Regeleinhaltung und eine bessereSchulung im Umgang mit aggressiven und gewalttätigen Kunden. Man sieht auch eine zu hohe Arbeitsbelastungund wünscht sich mehr Personal. Diverse Gesetzesänderungen werden angemahnt. Die Beschäftigten sehenauch einen besonderen Unterstützungsbedarf bei psychisch auffälligen Personen und bei Migranten, die schonaufgrund von Sprachbarrieren nicht immer erreicht würden. Mit beiden Personengruppen entstehen relativhäufig eskalierende Konflikte. Beschäftigte wünschen sich außerdem mehr Verständnis und Unterstützungdurch Politik und Öffentlichkeit.
 

Gießen, 8. Februar 2020
Prof. Dr. Britta Bannenberg / Frederik Herden / Franziska Kemperdiek / Tim Pfeiffer

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Ein qualifizierter und leistungsfähiger öffentlicher Dienst in Kommunen und Ländern ist auch in Zukunft eine unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren unseres Staates. Dabei sollten die dort beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Beamtinnen und Beamten von einer Gewerkschaftsvertretung profitieren, die auf die zunehmend schwierigeren Berufsbedingungen eingeht.
Die komba gewerkschaft ist dabei für über 80.000 Mitglieder ein kompetenter Ansprechpartner. Sie vertritt ihre Interessen gegenüber Politik, Arbeitgebern und Dienstherren bei Themen des Arbeits- und Beamtenrechts, bei Tarifverhandlungen, in Besoldungsfragen, in der Kommunal- und Sozialpolitik.

Zahlreiche ehrenamtliche Mitglieder engagieren sich in den örtlichen Vertretungen und ansässigen Jugendgruppen, in Ausschüssen und Fachbereichen, Kommissionen sowie Arbeitskreisen der 16 Landesgewerkschaften. Ihre Betreuung ist besonders ziel- und praxisorientiert ausgerichtet. Dabei werden sie von Juristen, Fachreferenten und Mitarbeitern in den jeweiligen Landesgeschäftsstellen tatkräftig unterstützt.

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